Mai 2025
18.5.2024
Ich bin Wolfs Fahrrad. Schon seit Tagen bemerke ich bei ihm diese besondere Nervosität. Die nur die Menschen spüren, die ihn gut kennen. Ich habe zwar keinen Namen, bin aus Metall, aber ich besitze immerhin eine Seele. Ich pflege nach all den Jahren eine symbiotisch Beziehung zu Wolf. Ich bin mit ihm vertraut wie mit meinen eigenen Schweißnähten. Das Glück liegt bei ihm im Unterwegssein, auf den Straßen dieser Welt, im Fremden, das seine Zurückhaltung herausfordert. Weg von allem, was immer so nützlich und notwendig daher kommen muss. Weg von der Erinnerung an den Winter zu Hause, Düsternis und Kälte. Es ist Frühling und Wolf muss los. Am besten allein. Mit mir. Mit sich selbst. Sich wirklich aufgehoben fühlen, wenn die Welt an ihm vorbeirauscht und er an ihr. Flucht vor dem, was war oder was sein wird. Ich psychologisiere wie jedes Fahrrad zu viel, hinten auf diesen grasgrünen Bus aufgeschnallt, Richtung Brandenburger Tor. Das Brandenburger Tor. Jeder Fahrradfahrer will zwischen dessen Säulen unter der Quadriga durchradeln, als würde er von einer vergangenen Welt in die gegenwärtige wechseln. Das Ding ist eine Zeitmaschine, die sich mit Muskelkraft antreiben lässt. Wolf will da natürlich auch durch. Als Eröffnungsgeste unserer Fahrradtour. Pathos symbolischer Handlungen. Immerhin als Ziel hat er die kleine zarte Meerrjungfrau, die so sehnsuchtsvoll auf die Ostsee in Kopenhagen blickt, auserkoren. Das beruhigt mich dann doch und erfüllt meine gut geschmierten Kettenglieder mit echter Freude.
19.5.2024
Brandenburger Tor um 8.00 Uhr morgens. Ein Aufpasser ermahnt Wolf, mich nicht an eine dieser heiligen Säulen zu lehnen. Ach ja, dieses Nationalheiligtum, 700 km von der kleinen Meerjungfrau entfernt. Eigentlich will ich schnell hier weg. Ein alter Schulfreund, der seit vielen Jahren in Berlin wohnt, begleitet Wolf heute. Ewige Freundschaft seit der Klassenfahrt in der ewigen Stadt. Beide wundern sich über den makellosen, tiefgründigen Rollrasen, der die gesamte Straße des 17. Juni bedeckt. Die Fanmeile entsteht, für das neue deutsche Sommermärchen nach Hänsel und Gretel und 2006. Berlin ist ein Moloch, das wird mir Fahrrad auch diesmal klar. Klassische Stadtmenschen eingepackt in grauen, vom Leben gezeichneten Jogginganzügen , eine Bierflasche in der Hand, eine Zigarette im Mund und eine Panik in den Augen, stehen hilflos auf Radwegen herum, schimpfen und brüllen uns hinterher. Der Radweg scheint ihr Revier zu sein und nicht unseres. Wir quälen uns durch die Stadt wie Livingstone einst durch den afrikanischen Dschungel. Überall tun sich hungrige Baugruben auf, Straßen, die vor Baustellen jäh enden, Radwege, die einfach so zu Autobahnauffahrten mutieren. Berlin ist so ziemlich das Gegenteil von München, auch für Fahrräder. Aber die Natur lässt diese Stadt dennoch nicht los. Finger aus Rinnsalen, Flüssen und Kanälen legen sich auf die Wunden der Stadt und ihrer Bewohner und versuchen sie nach nach draußen zu locken mit ihrem schillernden Blau und ihrem gemächlichen Fließen. Wir lassen uns gerne verführen. Wir bekommen schließlich einen dieser Finger zu fassen, der uns aus diesem urbanen Durcheinander endlich herauszieht. So radeln wir an einem der unzähligen Kanäle entlang, streng Richtung Norden. Es wird schnell still, Bäumerauschen und Vogelgezwitscher. Das fließende Wasser hat noch nie was von Hektik gehört, geschweige denn gespürt. Ich spüre, dass Wolf sich beruhigt, sein Griff auf meinem Lenker lockert sich, sein Tritt in die Pedale wird weicher, der Atem gelassen. Irgendwann kehrt Wolfs Freund um. Er muss nach Hause, zurück nach Berlin. Der Arme, denke ich. Wolf und ich fahren weiter, immer tiefer in das Grün und das Labyrinth aus schmalen Wegen, kleinen Flüsschen, mit Kastanien gesäumten Kanälen. Brandenburg, nördlich von Berlin. Hier scheint immer noch die Zeit zu herrschen, wo man ins Grüne gefahren ist. Schließlich kommen wir in Zehdenick, schon 100 km weg von Berlin, an. Neben einem kleinen Flüsschen finden wir einen Platz für Wolfs Zelt. Lange habe ich nicht mehr an eine Buche gelehnt an einem Wasser die Nacht verbracht.
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